Zusammenfassung meiner Dissertation:

Der Nervus terminalis der Säugetiere und des Menschen

Qualitative Aspekte
Die vorliegende Arbeit ist einer umfassenden Betrachtung des Nervus terminalis ("nullter" Hirnnerv der Wirbeltiere) und der übrigen Derivate der Riechplakode gewidmet. Dabei wurde unter anderem eine nahezu lückenlose qualitative und quantitative Analyse des Nervus terminalis beim Mausohr (Myotis myotis) durchgeführt. Untersucht wurden hierbei eine ontogenetische Reihe von 27 Tieren, darüber hinaus auch einzelne Exemplare weiterer Arten von Fledermäusen (Chiroptera) und des Menschen. Abgesehen von diesen konventionellen Schnittserien wurden 5 Gehirne der Großen Braunen Fledermaus (Eptesicus fuscus) und 6 Gehirne des Graumulls (Cryptomys spec.) auf ihre LHRH - exprimierenden Neuronen hin quantitativ bearbeitet, welche aus der Riechplakode emigrieren und über den Nervus terminalis teilweise sogar bis in das Zentralnervensystem einwandern.

Der Nervus terminalis besteht im Bereich des Nasenseptums aus einem dorsalen Faserzug (Hauptzug) mit dazugehörigem Hauptzugganglion und einem ventralen Nebenzug mit einem bis mehreren kleinen Nebenzugganglien. Der Hauptzug nimmt den Nebenzug auf, tritt durch die Lamina cribrosa ins Cavum cranii ein und läuft über ein meningeales Ganglion terminale centrale oder einen entsprechenden Plexus und einen zentralen Faserzug (mit Ganglion) zur Wand des Telencephalon.

Die Entwicklung der Derivate der Riechplakode wurde hier erstmals in Form eines allgemeinen Bauplans für die Säugetiere dargestellt. Die untersuchten Chiropteren folgen weitgehend diesem Bauplan, denn die Plakode wird im Stadium 3 (nach Štêrba '90), d.h. bei einer Scheitel - Steiß - Länge [SSL] von ca. 4 mm (27. Gestationstag), als Verdickung des lateroventralen Vorderkopf - Ektoderms sichtbar. Etwa einen Tag später stülpt sich hier die Riechgrube ein; von deren dorsolateraler Wand wachsen die Fila olfactoria in Richtung auf das basale Telencephalon vor (Stadium 4, Myotis myotis von 6,5 mm SSL) und bilden den stets gut entwickelten Hauptbulbus. Interessanterweise wird ab dem Stadium 5 (ca. 10 mm SSL) dieser Spezies im medioventralen Abschnitt der Plakode durch Einstülpung des Epithels in die Submukosa eine Struktur entwickelt, welche der Anlage des Vomeronasalorgans entsprechen dürfte. Allerdings verlagert sich dieses Organ später, im Gegensatz zu der für Säuger typischen Lokalisation (Submukosa des ventralen Nasenseptums), in das dorsorostrale Nasendach. Aus der medialen Plakode wandern bzw. wachsen Anteile des Nervus terminalis bzw. des Nervus vomeronasalis* aus, wobei letztere den Nebenbulbus* induzieren (Bulbus olfactorius accessorius). Bei diesen Zellen handelt es sich zum einen um die Vorläufer der Schwannschen Zellen,welche die Fila olfactoria bzw. vomeronasalia* sowie die Fila terminalia begleiten, zum anderen um die Terminalisneuroblasten.

Während die Fila die Ausbildung des Haupt- und Nebenbulbus* induzieren, sammeln sich beiderseits viele Terminalisneuroblasten in einem oder mehreren Ganglien nahe der rostralen Basis des Telencephalon. Ihre Fasern konstituieren den Nervus terminalis und ziehen an der basalen Oberfläche des Bulbus olfactorius entlang, dringen teilweise bis in dessen Glomerularschicht ein und / oder sammeln sich zu einem zentralen Faserzug. Weiter caudal erreichen die Fasern Äste der Arteria cerebri anterior (Chiroptera: A. cerebri posterior). Im Bereich des Tuberculum olfactorium und des diagonalen Bandes tritt der Nerv in Form von zentralen Faserzügen in das Gehirn ein; manchmal findet sich hier auch noch ein kleines Ganglion.

Die hier untersuchte Schnittserie eines Fetus des Menschen (116 mm SSL) zeigt mehrere in einen nasalen Plexus eingebundene Nebenzüge mit sehr zellreichen Ganglien nahe dem Vomeronasalorgan und nur einen schwach ausgebildeten Hauptzug des Nervus terminalis. Der aus verstreuten intrameningealen Terminalisneuronen hervorgehende zentrale Faserzug läßt sich beiderseits noch ein Stück weit entlang der Bulbi olfactorii nach caudal verfolgen.

Im Zuge der weiteren Ontogenese ließ sich bei Myotis myotis neben multipolaren und spindelförmigen Neuronen ein transitorischer Zelltyp mit chromatindichtem Kern und hellem Cytoplasma nachweisen. Er tritt bei Myotis myotis in mittleren Fetalstadien auf, und die betreffenden Zellkerne werden zunehmend pyknotisch. Mit dem Verschwinden dieser transitorischen Neuronen verringert sich die Gesamtzahl der Terminalisneuronen.

Dem Nervus terminalis werden autonome, sensible, sensorische und endokrine Funktionen zugeschrieben: Seine enge Nachbarschaft zu Blutgefäßen konnte bei allen untersuchten Exemplaren nachgewiesen werden und deutet auf eine vasomotorische Funktion des Nerven hin. Diese autonome (cholinerge) Komponente ist vermutlich als eine Art Auxiliarsystem zu verstehen, welches die Tätigkeit der Mukosa und des basalen Vorderhirns über die Kontrolle ihrer Durchblutung reguliert bzw. optimiert. Das bei Myotis myotis in unmittelbarer Nähe des mutmaßlichen Jacobsonschen Organs befindliche Hauptzugganglion dürfte dessen Funktion beeinflussen, zumal der Hauptzug des Nerven hier anscheinend die einzige Verbindung dieses Organs mit dem ZNS darstellt. Inwieweit der Hauptzug damit als eine dem Vomeronasalnerven anderer Säuger analoge oder gar homologe Struktur gewertet werden kann, sei dahingestellt. Bei einigen Exemplaren von Myotis fehlen die Nebenzüge mit ihren Ganglien oder sind nur einseitig angelegt, bei anderen enthalten sie sehr viele Neuronen; an diesem Beispiel wird die große Variabilität im Nervus terminalis deutlich. In den Ganglien überwiegen irreguläre bzw. aufgrund ihrer Packungsdichte nicht eindeutig klassifizierbare Nervenzellen, während Faserzüge meist spindelförmige Neuronen aufweisen.

In früheren Untersuchungen wurde über Anastomosen des Nervus terminalis mit den Fila olfactoria, dem Nervus vomeronasalis sowie den Nervi nasopalatinus, ethmoidalis anterior sowie dem Plexus caroticus berichtet, was eine gegenseitige Beeinflussung dieser nervalen Komponenten nahelegt; einige derartige Anlagerungen wurden auch bei dem hier bearbeiteten fetalen Exemplar des Menschen nachgewiesen. Ferner versorgt der "nullte" Hirnnerv auch direkt die nasale Mukosa und in der Submukosa gelegene Drüsen. Er projiziert unter anderem über LHRHerge Fasern bzw. sich anschließende LHRH - immunreaktive Neuronenpopulationen zum Bulbus olfactorius, Septum, diagonalen Band, zur Area praeoptica, zum OVLT, der Eminentia mediana und zum Infundibulum. Dabei soll LHRH einerseits als Transmitter freigesetzt, andererseits aber auch ins Blutgefäßsystem und den Liquor cerebrospinalis sezerniert werden können. Durch seine intensiven Beziehungen zum Vorderhirn während der frühen Fetalphase dürfte der Nervus terminalis die Entwicklung der Hypothalamo - Hypophysen - Gonadenachse und über eine Modulation des olfaktorischen Input das Sexualverhalten und die Fähigkeit zur Reproduktion maßgeblich mitbestimmen. Ontogenetische Studien zur Topographie von LHRH im Nervensystem von Nagetieren sprechen für eine frühe Etablierung dieser Achse, welche teils durch das Einwandern von LHRH - immunreaktiven Neuronen in das ZNS, teils aber auch durch die Induktion zentraler Neuroblasten durch Axone reifer Zellen des N. terminalis erklärt wird. Klinisch gesehen führt das Unvermögen des Nervus terminalis, in das Gehirn einzuwachsen, zu gravierenden Folgen für dessen Entwicklung. Besonders deutlich wird dies am Kallmann - Syndrom (olfacto - genitales Syndrom), bei dem sich offenbar als Resultat einer gestörten Entwicklung der Riechplakode eine Arhinencephalie mit sekundärem Hypogonadismus ausbildet.

Anders als bei den untersuchten Fledermäusen sind bei drei adulten, non - repro-duktiven Weibchen des Graumulls neben den beschriebenen LHRH - immunreaktiven Neuronen noch andere LHRH - positive Zellen vorhanden. Sie sind möglicherweise als Gliazellen anzusehen und wurden aufgrund ihrer stark LHRH - positiven Vakuole(n) als Dark - Spot - Zellen (DSC) bezeichnet. Ihre funktionelle Bedeutung ist bislang unklar.


* Diese Strukturen fehlen bei Myotis myotis und anderen Chiroptera
 

Quantitative Aspekte :
In Übereinstimmung mit der Literatur zeigen die hier vorgestellten Ergebnisse, daß Säugetiere zumindest während ihrer pränatalen Ontogenese ein- bis mehrere tausend Terminalisneuronen besitzen; etwa 10 % dieser Neuronen exprimieren LHRH. Schon in der Embryonalzeit (Stadium 4 bis 6) ist der größte Teil des Terminalismaterials gebildet und teilweise bis in die prospektive Leptomeninx vorgedrungen. Nach der Migrationsphase befinden sich die Terminaliszellen überwiegend in der nasalen Submukosa. Postnatal nimmt die Zahl der Terminalisneuronen überall ab. Dabei verschiebt sich das Verhältnis jedoch zugunsten der meningealen Terminalisneuronen, wie die Untersuchung von Myotis zeigt. Bei dem fetalen Flughund (Epomophorus wahlbergi) wurden keinerlei nasale Terminalisneuronen gefunden, dafür aber ein meningealer Plexus des Nervus terminalis mit insgesamt 1.165 Neuronen (beide Seiten).

Die Schnittserie unseres Feten von Homo sapiens (116 mm SSL) enthielt 3.317 meningeale und 2.456 nasale, insgesamt also 5.773 Terminalisneuronen (beide Seiten). Während ein vier Monate altes Kind noch über 1.700 meningeale Neuronen aufwies (Sinclair '51b), besitzt der erwachsene Mensch insgesamt nur noch etwa 60 bis 200 meningeale Terminalisneuronen (die Zahl der nasalen Neuronen ist unbekannt).

Die quantitative Auswertung der vorliegenden Reihe prä- und postnataler Exemplare von Myotis myotis weist (bei hoher Variabilität) auf eine Zunahme der Zahl der Terminalisneuronen in allen Bereichen bis zu mittleren Fetalstadien hin (Maximum bei 27 mm SSL). Postnatal kommt es zu einer deutlichen Verminderung der Neuronenzahl im "nullten" Hirnnerven, doch besitzt ein einzelnes Zentralganglion oder ein Hauptzugganglion beim adulten Mausohr immer noch etwa 200 Neuronen.

In den konventionell gefärbten Schnittserien von Myotismyotis konnte eine etwaige Migration von Terminaliszellen ins ZNS nicht belegt werden. Eine solche Immigration könnte aber für Teile der LHRH - immunreaktiven Neuronenpopulation des N. terminalis in Frage kommen. Bei der immunhistochemischen Untersuchung von postnatalen Exemplaren der großen braunen Fledermaus (Eptesicus fuscus) und des Graumulls (Cryptomys spec.) fanden sich (ohne Nasenregion) etwa vier Fünftel aller LHRH - positiven Neuronen im ZNS. Die Gesamtheit der bisherigen Untersuchungen (inklusive der hier vorgelegten neuen Ergebnisse) zeigt, daß im Nervus terminalis und Gehirn von adulten Säugetieren einige Hundert bis maximal etwa 2.500 LHRH - positive Neuronen (Dark Spot - Zellen nicht mitgezählt) vorliegen können, wobei in dieser Spanne, abgesehen von einer ausgeprägten natürlichen Variabilität, auch die oft wenig validen Daten der Literatur enthalten sind.

Bisher sind über den Nervus terminalis nur relativ wenige ontogenetische und quantitative Untersuchungen durchgeführt worden. Hier öffnet sich ein weites Feld für weitere Forschungsaktivitäten. Vielleicht wird es trotz der hohen Variabilität dieses noch weithin rätselhaften "nullten" Hirnnerven eines Tages möglich sein, statistisch signifikante Aussagen zu machen. Angesichts der essentiellen Bedeutung des Nervus terminalis, welcher mehr oder minder ausgeprägt, lebenslang erhalten bleibt, für die Entwicklung der Säugetiere und des Menschen wäre bei solchen Untersuchungen eine Verknüpfung von morphologischen und physiologischen Methoden außerordentlich wünschenswert.


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